MISSUNDERSTOOD
BODIES

Ein Projekt gegen Geschlechter-Vorurteile im Gesundheitswesen

Masterarbeit an der uniBZ, 2022

Die Geschichte der Medizin ist genauso sozial und kulturell wie wissenschaftlich geprägt – und das Patriarchat ist in ihr verwurzelt. Jahrhundertelang wurde Frauen gesagt, sie hätten Hysterie. Dies wurde als diagnostizierbarer Zustand angesehen, um die Gesundheitsbeschwerden von Frauen zu erklären, die Männer nicht verstanden. Frauen und Personen, die als weiblich wahrgenommen werden, wurden nie als verlässliche Quellen für das, was mit ihren Körpern passiert, respektiert. Auch heute noch gibt es in der professionellen medizinischen Erzählung von Krankheit keinen Raum für persönliche Erfahrungen. Das Projekt mis(s)understood bodies will diesen Raum schaffen. Es hört endlich denjenigen zu, die ihrem Schmerz am nächsten sind – den Patient:innen. Durch die Aufdeckung von Krankheits-, Diagnose- und Schmerzgeschichten soll das Projekt das Bewusstsein für das sogenannte "Gender Health Gap" schärfen und das "Medical Gaslighting" von Patient:innen bekämpfen. Diese Geschichten werden in animierte Kurzfilme umgewandelt, die von den Patient:innen selbst erzählt werden und von ihren Erfahrungen inspiriert sind. Je mehr Menschen ihre Geschichten erzählen, desto mehr werden Tabus, Stereotypen und Vorurteile abgebaut, die sie daran hindern, die Hilfe zu bekommen, die sie verdienen.

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Medizinische Studien zeigen, dass Ärzt:innen dazu neigen, die Symptome von Männern als körperliche oder biologische Symptome und die von Frauen als emotionale oder psychosoziale Symptome zu interpretieren. Die Diagnosezeiten werden durch Geschlechter-Stereotypen verlängert, und das Wissen über geschlechtsspezifische Gesundheit nicht nur auf soziokultureller, sondern sogar auf biologischer Ebene wird in der Medizin oft dramatisch vernachlässigt.

Das Leben von Frauen und Menschen, die als weiblich wahrgenommen werden, hängt davon ab, dass die Medizin lernt, zuzuhören, aber auch davon, dass Patient:innen ihr Recht einfordern, zu sprechen. Bei dem Projekt mis(s)understood bodies geht es darum, der Perspektive der Patient:innen Raum zu geben und sie dazu zu empowern, ihre Geschichten zu erzählen. Das Teilen der persönlichen, intimen Realität schafft wertvolles Wissen – Wissen, das ein starres Diagnosemodell nicht berücksichtigen kann oder will.

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In einem kollaborativen Prozess, bestehend aus Workshops und Creative Thinking Methoden, wurden die Erfahrungen der Patient:innen gesammelt und dann in eine visuelle Sprache umgewandelt. Das Ergebnis sind Kurzfilme, inspiriert von Metaphern, die von den Erkrankten geschaffen und erzählt wurden. 

Aléna leidet seit sie ihre erste Periode bekam an Endometriose. Ihr Weg zur Diagnose war holprig, nur wenige Spezialist:innen kennen sich mit der Erkrankung gut genug aus, um sie frühzeitig zu erkennen und Therapieformen anzubieten. Die Krankheit schränkt Aléna oft in ihrem Alltag als Tänzerin ein. Besonders Erkrankungen, unter denen vor allem Menschen mit einer Gebärmutter leiden, wie die gynäkologische Erkrankung Endometriose, sind noch viel zu wenig erforscht. Der Endometriose wurde in den 1920er Jahren ein Name gegeben, ihre Ursache ist bis heute ein Rätsel. Der Weg zur Diagnose dauert im Durchschnitt schmerzhafte 7 bis 10 Jahre. Oft wird die Erkrankung als normale Regelschmerzen missverstanden und Patient:innen nicht ernst genommen. Erst 2017 hat das National Institute for Health and Care Excellence medizinische Leitlinien für den Umgang mit Endometriose veröffentlicht. Die wichtigste Empfehlung in diesen Leitlinien lautet: "Hören Sie den Patient:innen zu."  

Lange Zeit wurden Sophias Symptome als wiederkehrende Depression beschrieben. Über die Jahre wurde Sophia in verschiedene Verdachtsdiagnosen gesteckt, auch wenn die Beschwerden eigentlich gar nicht zu den Diagnosekriterien passte. Außerdem sei Sophia theatralisch, zu emotional und übertreibe nur. Ein Arzt wollte Sophia sogar eine sogenannte „histrionische Persönlichkeitsstörung“ auferlegen (die mehr oder weniger eine moderne Weiterentwicklung der alten „Hysterie“ ist). Persönlichkeitsstörungen kann und sollte man jedoch erst im Alter von mindestens 17 Jahren diagnostizieren. Nämlich dann, wenn sich die Persönlichkeit eines Menschen etwas gefestigt hat. ADHS schließlich als Auslöser für die Depressionen in Erwägung zu ziehen, war keine Leistung von Ärzt:innen, sondern Sophias eigene Überlegung. Mit Hilfe von den richtigen Psychotherapeut:innen ist Sophia dieser Idee dann weiter auf den Grund gegangen und konnte sich nun, nach mittlerweile 26 Jahren mit für sie lange unerklärlichen Symptomen, endlich auf den richtigen diagnostischen Weg begeben.

Mias Ärzt:innen vermuteten eine Angststörung und entgegneten den Beschreibungen ihrer Symptome mit Unglauben: „Das ist gar nicht möglich.” Nach monatelanger Überzeugungsarbeit unter Symptomen wie Kurzatmigkeit, erhöhter Temperatur, Durchfall, extreme Erschöpfung, starkem Herzrasen, Schwindel und Brainfog, wurde bei Mia endlich ein Lungen-CT durchgeführt. Dort stellte sich heraus, dass nicht nur Mias Lunge betroffen war, sondern sie auch eine abgelaufene Perimyokarditis hatte. Mia kämpfte darum, an die Charité in Berlin überwiesen zu werden, wo sie dann später mit Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue Syndrom (ME/CFS) diagnostiziert wurde. Die WHO stuft die ME/CFS bereits seit 1969 als neurologisch ein. Trotz symptomatischer Abgrenzung zu psychischen Erkrankungen werden Patient:innen, vor allem aber Frauen und weiblich gelesene Personen, oft mit der Aussage abgetan, dass die Ursache ihres Leidens psychosomatisch sei. Mia ist noch moderat betroffen und wurde nach ca. einem Jahr diagnostiziert. Andere Patient:innen warten Jahr(zehnt)elang auf ihre Diagnose und sind teilweise so schwer betroffen, dass sie ihr Bett nicht mehr verlassen können. Trotzdem hatte ME/CFS nie die Aufmerksamkeit der biomedizinischen Forschung, die andere Krankheiten hatten. Für ME/CFS gibt es bisher keine zugelassene kurative Behandlung oder Heilung. Das muss sich ändern. Für Mia und 17 Millionen weitere betroffene Menschen weltweit.